Renate Werwigk-Schneider, geborene Großmann, versucht als junge Frau zweimal, aus der DDR zu fliehen. Beide Versuche scheitern. Beim ersten Mal sind ihre Eltern dabei. Die Familie wird 1963 verhaftet und verurteilt. Beim zweiten Mal versucht Renate 1967, ohne ihre Eltern über Bulgarien in die Bundesrepublik zu gelangen. Auch diese Flucht scheitert. Renate wird wieder verurteilt und kommt wieder ins Gefängnis. Schließlich gelingt es, sie 1968 in die Bundesrepublik freizukaufen.
Daran beteiligt sind Lore und Karl Brodhäcker, enge FreundInnen der Familie Großmann aus Gießen (Hessen). Sie sind gut vernetzt und setzen sich für deren Freilassung und später für Renates Freikauf ein.
Lore Brodhäcker sammelt den Briefwechsel aus dieser Zeit. Diesem Konvolut und dem Kontakt zu Renate Werwigk-Schneider verdanken wir es, dass wir ihre Geschichte aus ganz unterschiedlichen Blickwinkeln erzählen können: der Fluchtwilligen in der DDR, ihren FreundInnen in Westdeutschland, Anwälten, Justizorganen. So erhalten wir spannende Einblicke in die innerdeutsche Fluchtbewegung und die deutsch-deutschen Beziehungen auf persönlicher und politischer Ebene.
Renate Großmann wird 1938 in Königs-Wusterhausen geboren. Ihr Vater ist als Pfarrer und Arzt, seit 1956 nur noch als Arzt tätig. Ihre Erziehung ist religiös orientiert. Der DDR steht die Familie kritisch gegenüber, öfters kommt es zu Konflikten. Nach dem Volksaufstand am 17. Juni 1953 wird Renate für kurze Zeit der Schule verwiesen. Sie ist aktives Mitglied der christlichen Jungen Gemeinde. Nach dem Abitur 1956 studiert sie Medizin an der Humboldt-Universität in Ost-Berlin und promoviert 1962.
Nach dem Mauerbau 1961 verschärfen sich die Lebensbedingungen der Familie. Ohne die Möglichkeit gelegentlich nach West-Berlin zu fahren, wächst der Druck, die DDR dauerhaft zu verlassen. Renates Bruder Reinhard flieht Ende 1961. Anschließend versucht er, seiner Familie zur Flucht zu verhelfen. Im Februar 1963 sollen sie durch einen vom Westen aus gegrabenen Tunnel kommen. Der Tunnel wird an das Ministerium für Staatssicherheit (MfS) verraten. Renate und ihre Eltern werden verhaftet.
Nach ihrer Verhaftung kommt der Familie Großmann das Ehepaar Brodhäcker aus Gießen (Hessen) zu Hilfe. Lore Brodhäcker arbeitet als Journalistin, Karl Brodhäcker ist Verleger des „Gießener Anzeigers“. Beide waren über die Fluchtpläne informiert. Sie schicken zahlreiche Pakete mit Lebensmitteln, Kleidern und anderen Dingen nach Teupitz (Brandenburg). Adressatin ist bis zu ihrem Haftantritt Hilde Großmann. Ihr helfen die Pakete, die Zeit ohne Ehemann und Tochter auch materiell zu überstehen.
Der Prozess gegen Großmanns und weitere Angeklagte findet im September 1963 vor dem Bezirksgericht Rostock statt. Renates Vater wird zu 3 Jahren und 6 Monaten, Renate zu 2 Jahren und 6 Monaten Zuchthaus wegen „fortgesetzten gemeinschaftlichen Verleitens zum Verlassen der DDR“ mit „versuchtem Passvergehen“ verurteilt. Die Untersuchungshaft wird angerechnet. Renates Mutter bekommt 1 Jahr Gefängnis wegen „Verbindung zu einer verbrecherischen Organisation“ in Verbindung mit „versuchtem Passvergehen“.
Brodhäckers bemühen sich schon während der Untersuchungshaft um die Freilassung von Renate und Gottlieb Großmann. Sie sind gut vernetzt und wenden sich unter anderem an die evangelische Kirche, den Verfassungsschutz und an den Rechtsanwalt der Familie Großmann in Ost-Berlin, Friedrich Karl Kaul. Es ist jedoch schwierig, das Verfahren ohne Kenntnis des Justizsystems mit seinen festgelegten Abläufen und Zuständigkeiten zu beeinflussen.
Hilde Großmann wird nach einem Jahr Haft im Frauengefängnis in der Barnimstraße (Ost-Berlin) entlassen. Gottlieb und Renate, die zu höheren Zuchthausstrafen verurteilt worden sind, kommen Anfang 1965 vorzeitig frei. Renate hat ihre Haftstrafe in Frankfurt/Oder, ihr Vater in Halle verbüßt. Beide haben in der Haft medizinische Tätigkeiten übernommen. Nach der Freilassung fangen sie wieder an, regulär als Ärzte zu arbeiten. Renate arbeitet erst in einem Krankenhaus und später in einer Kinderklinik.
Dem ersten Scheitern und ihrer Haftstrafe zum Trotz möchte Renate Großmann weiterhin die DDR verlassen. Sie plant eine zweite Flucht. Dieses Mal möchte sie mit Hilfe ihres Verlobten Dieter Schneider über Bulgarien fliehen. Er lebt in der Bundesrepublik. Auch diese Flucht scheitert und beide werden festgenommen. Dieter kommt als Westdeutscher bald wieder frei. Renate wird von Bulgarien noch im Juni 1967 an die DDR ausgeliefert und kommt erneut in MfS-Untersuchungshaft in Hohenschönhausen.
Zwischen Juni und Dezember 1967 ist Renate Großmann in Berlin-Hohenschönhausen inhaftiert. Am 12. Dezember 1967 findet in Potsdam der Prozess gegen sie statt. Renate Großmann wird zu 3 Jahren und 6 Monaten Zuchthaus wegen „Verbindung zu verbrecherischen Organisationen in Tateinheit mit versuchtem illegalen Verlassen der DDR“ verurteilt. Nach der Verurteilung bleibt sie zunächst in Hohenschönhausen. Ab März 1968 ist sie dann im Frauengefängnis Hoheneck in Stollberg inhaftiert.
Auch nach der zweiten gescheiterten Flucht bemühen sich Brodhäckers um eine Freilassung von Renate Großmann. Seit 1964 kauft die Bundesrepublik politische Gefangene aus DDR-Haft frei. Brodhäckers nutzen erneut ihre Netzwerke und treten selbstbewusst an staatliche und kirchliche Stellen sowie Anwälte heran. Die Bemühungen für einen Freikauf sind erfolgreich: Im Sommer 1968 wird Renate in die Bundesrepublik entlassen. Brodhäckers kümmern sich zunächst um sie, da sie von der Haft geschwächt ist.
Renate Großmann und ihr Verlobter Dieter Schneider heiraten 1968. Sie ziehen nach West-Berlin. Renate Schneider beginnt dort, in einer Kinderklinik zu arbeiten. Ihrem Vernehmer in Bulgarien schickt sie die Nachricht über ihre Heirat und damit über ihre Freilassung. Das hatte sie während der Verhöre angekündigt. Ihr Brief hat später ungeahnte Konsequenzen für die Familie.
Lore Brodhäcker aus Gießen (Hessen) sammelte die Briefe, die die befreundete Familie Großmann ihr und ihrem Mann Karl aus Teupitz (Brandenburg) schickten. Teilweise fertigte sie auch Abschriften ihrer eigenen Briefe an. Der Briefwechsel zeugt von zwei gescheiterten Fluchtversuchen aus der DDR und den anschließenden Bemühungen um Freilassung. Über 300 Briefe, Postkarten, amtliche Schreiben und Paketlisten sind aus der Zeit von 1962 bis 1980 erhalten. Lore Brodhäcker plante mit den gesammelten Materialien ein Buchprojekt. Das Buch wurde nie veröffentlicht, Fragmente des Manuskriptes sind überliefert.
Nach dem Tod von Lore Brodhäcker übergab ihr Mann das Material an Renate Werwigk-Schneider, geborene Großmann. Sie hatte zweimal versucht, aus der DDR zu fliehen. Seit mehreren Jahren ist sie der Stiftung Berliner Mauer als Zeitzeugin verbunden. Sie hat uns die Dokumente überlassen, damit wir sie für die Nachwelt aufbereiten und für die historisch-politische Bildung nutzen können.
Wir haben uns entschieden, die Dokumente nicht als Buch zu veröffentlichen, sondern für eine Website aufzubereiten. Die ausgewählten Materialien sind komplett und nicht nur in Auszügen lesbar. LeserInnen können selbst entscheiden, wie sehr sie sich in die Geschichte vertiefen. Wir möchten ihnen ermöglichen, sich nicht nur mit den Ereignissen, sondern auch mit der Sprache der Dokumente auseinanderzusetzen. In der Präsentation ergänzen wir die Dokumente mit Fotos aus dem Privatarchiv von Renate Werwigk-Schneider. Außerdem zeigen wir Ausschnitte aus Interviews, die die Stiftung Berliner Mauer mit ihr geführt hat. Ergänzende Hintergrundinformationen vermittelte uns Renate Werwigk-Schneider in zahlreichen Gesprächen. So wird einiges klar, was sich aus den Dokumenten selbst nicht erklärt.
Wir können uns dem Thema Flucht, Haft und Freikauf deswegen aus unterschiedlichen Perspektiven und Zeitschichten nähern: privaten und offiziellen Blickwinkeln, Ost und West, Quellen aus der Zeit des Kalten Krieges und der persönlichen Rückschau einer Zeitzeugin. Diese Vielschichtigkeit ist selten, oftmals ist nur eine Quellenart überliefert. Erzählbarkeit von Geschichte ist immer auch abhängig von der Art und dem Umfang von Überlieferungen. Das vorliegende Material ist in seiner Vielfalt besonders geeignet, eigene Interpretationen vorzunehmen und regt dazu an, weiter zu lesen – zum Thema Freikauf oder Flucht aus der DDR.