Flucht-Aktionen

Einführung

Renate Werwigk-Schneider, geborene Großmann, versucht als junge Frau zweimal, aus der DDR zu fliehen. Beide Versuche scheitern. Beim ersten Mal sind ihre Eltern dabei. Die Familie wird 1963 verhaftet und verurteilt. Beim zweiten Mal versucht Renate 1967, ohne ihre Eltern über Bulgarien in die Bundesrepublik zu gelangen. Auch diese Flucht scheitert. Renate wird wieder verurteilt und kommt wieder ins Gefängnis. Schließlich gelingt es, sie 1968 in die Bundesrepublik freizukaufen.

Daran beteiligt sind Lore und Karl Brodhäcker, enge FreundInnen der Familie Großmann aus Gießen (Hessen). Sie sind gut vernetzt und setzen sich für deren Freilassung und später für Renates Freikauf ein.

Lore Brodhäcker sammelt den Briefwechsel aus dieser Zeit. Diesem Konvolut und dem Kontakt zu Renate Werwigk-Schneider verdanken wir es, dass wir ihre Geschichte aus ganz unterschiedlichen Blickwinkeln erzählen können: der Fluchtwilligen in der DDR, ihren FreundInnen in Westdeutschland, Anwälten, Justizorganen. So erhalten wir spannende Einblicke in die innerdeutsche Fluchtbewegung und die deutsch-deutschen Beziehungen auf persönlicher und politischer Ebene.

Kindheit und Jugend

Renate Großmann wird 1938 in Königs-Wusterhausen geboren. Ihr Vater ist als Pfarrer und Arzt, seit 1956 nur noch als Arzt tätig. Ihre Erziehung ist religiös orientiert. Der DDR steht die Familie kritisch gegenüber, öfters kommt es zu Konflikten. Nach dem Volksaufstand am 17. Juni 1953 wird Renate für kurze Zeit der Schule verwiesen. Sie ist aktives Mitglied der christlichen Jungen Gemeinde. Nach dem Abitur 1956 studiert sie Medizin an der Humboldt-Universität in Ost-Berlin und promoviert 1962.

Renate Großmanns Konfirmation | Teupitz 1952
FotografIn unbekannt | Privatarchiv Dr. Renate Werwigk-Schneider Die Familie Großmann ist christlich und der DDR gegenüber kritisch eingestellt. Die älteste Tochter von Hilde und Gottlieb, Renate, wird 1952 konfirmiert. Sie nimmt über viele Jahre Orgelunterricht. Ihr Bruder Reinhard ist 3 ½ Jahre jünger als sie.

Ausflug der Jungen Gemeinde | 1950er Jahre
FotografIn unbekannt | Privatarchiv Dr. Renate Werwigk-Schneider In der sowjetischen Besatzungszone und später in der DDR entstehen innerhalb der evangelischen Kirche Junge Gemeinden, Zusammenschlüsse von engagierten jüngeren Gemeindemitgliedern. Sie treffen sich zu Diskussionen und Aktivitäten. Die SED verbietet die Jungen Gemeinden zwar nicht, ihre Mitglieder sind aber oft staatlicher Repression ausgesetzt. Renate Großmann (ganz rechts auf dem Foto), ist aktives Mitglied. Nach dem Volksaufstand am 17. Juni 1953 gerät sie mit dem SED-Regime in Konflikt.

Der erste Fluchtversuch

Nach dem Mauerbau 1961 verschärfen sich die Lebensbedingungen der Familie. Ohne die Möglichkeit gelegentlich nach West-Berlin zu fahren, wächst der Druck, die DDR dauerhaft zu verlassen. Renates Bruder Reinhard flieht Ende 1961. Anschließend versucht er, seiner Familie zur Flucht zu verhelfen. Im Februar 1963 sollen sie durch einen vom Westen aus gegrabenen Tunnel kommen. Der Tunnel wird an das Ministerium für Staatssicherheit (MfS) verraten. Renate und ihre Eltern werden verhaftet.

Ausschnitt aus einem Videointerview mit Dr. Renate Werwigk-Schneider | Berlin 2012
Stiftung Berliner Mauer Renate Werwigk-Schneider ist der Stiftung Berliner Mauer seit vielen Jahren verbunden. In einem lebensgeschichtlichen Interview für das Zeitzeugenarchiv der Stiftung berichtet sie über ihre Erfahrungen. Darüber hinaus steht sie Schulklassen und Erwachsenengruppen als Gesprächspartnerin zur Verfügung. Auch in der Dauerausstellung der Gedenkstätte Berliner Mauer ist sie präsent. In einer Videoinstallation schildert sie dort unter anderem die Gründe für ihre Flucht aus der DDR.

Brief von Hilde Großmann an Lore Brodhäcker | Teupitz 1963
Privatarchiv Dr. Renate Werwigk-Schneider Familie Großmann wird direkt nach der gescheiterten Flucht verhaftet. Renate und ihr Vater kommen in MfS-Untersuchungshaft nach Hohenschönhausen. Die Mutter bleibt vorerst frei. Per Brief schildert sie Lore Brodhäcker ihre Situation. Rechtsanwalt der Großmanns ist der prominente Jurist Friedrich Karl Kaul. Als überzeugter Kommunist hat er in der NS-Zeit politische und antisemitische Verfolgung überlebt. Er tritt auch in der Bundesrepublik vor Gericht auf, oft als Nebenklageanwalt in NS-Verfahren.

Im Gefängnis

Nach ihrer Verhaftung kommt der Familie Großmann das Ehepaar Brodhäcker aus Gießen (Hessen) zu Hilfe. Lore Brodhäcker arbeitet als Journalistin, Karl Brodhäcker ist Verleger des „Gießener Anzeigers“. Beide waren über die Fluchtpläne informiert. Sie schicken zahlreiche Pakete mit Lebensmitteln, Kleidern und anderen Dingen nach Teupitz (Brandenburg). Adressatin ist bis zu ihrem Haftantritt Hilde Großmann. Ihr helfen die Pakete, die Zeit ohne Ehemann und Tochter auch materiell zu überstehen.

Brief von Hilde Großmann an Lore Brodhäcker | Teupitz 1963
Privatarchiv Dr. Renate Werwigk-Schneider Immer wieder werden Pakete und Briefe beschlagnahmt und erreichen Familie Großmann erst über Umwege. Paket 33, das Lore Brodhäcker aufgelistet hat, bekommt Hilde Großmann am 30. Mai von ihrem Vernehmer übergeben. In ihrer Antwort an ihre Freundin in Gießen berichtet sie auch über die bevorstehenden Schritte im Verfahren gegen ihren Mann und ihre Tochter. Dieser Austausch gibt Hilde Kraft.

Broschüre mit Hinweisen für Geschenksendungen des Büros für gesamtdeutsche Hilfe | Bonn 1962
Privatarchiv Dr. Renate Werwigk-Schneider Der innerdeutsche Paketverkehr ist während der deutsch-deutschen Teilung ein wichtiges Bindeglied zwischen Ost und West. Auf dem Postweg werden persönliche Beziehungen aufrechterhalten. Die Geschenksendungen aus der Bundesrepublik sind auch eine materielle Hilfe für FreundInnen und Verwandte in der DDR. Das Büro für gesamtdeutsche Hilfe in Westdeutschland listet detailliert auf, was verschickt werden darf. Die Pakete müssen mit dem Hinweis „Geschenksendung – keine Handelsware“ versehen werden.

Formular des Bahnpostamtes Magdeburg | Magdeburg 1966
Privatarchiv Dr. Renate Werwigk-Schneider Westpakete werden vom Ministerium für Staatssicherheit (MfS) kontrolliert. Die Kontrolle verschleiert das MfS als Überprüfungen durch den Zoll oder die Post. Immer wieder werden Gegenstände entnommen. Hier teilt das Bahnpostamt in Magdeburg den Brodhäckers mit, dass eine verdorbene Frucht aus einem ihrer Pakete entnommen worden sei.

Brief von Renate an Hilde Großmann (Abschrift) — Brief von Dr. Renate Großmann an Hilde Großmann (Abschrift) | Rostock 1963
Privatarchiv Dr. Renate Werwigk-Schneider In den Unterlagen von Lore Brodhäcker findet sich auch dieser Brief von Renate Großmann an ihre Mutter. Sie berichtet von dem bevorstehenden Prozess in Rostock und versucht, ihrer Mutter Mut zu geben. Die erwähnte Schwester Frieda ist eine enge Freundin der Großmanns. Sie arbeitet als Gemeindeschwester in Teupitz und lebt im selben Haus wie Großmanns.

Verurteilung und Strafvollzug

Der Prozess gegen Großmanns und weitere Angeklagte findet im September 1963 vor dem Bezirksgericht Rostock statt. Renates Vater wird zu 3 Jahren und 6 Monaten, Renate zu 2 Jahren und 6 Monaten Zuchthaus wegen „fortgesetzten gemeinschaftlichen Verleitens zum Verlassen der DDR“ mit „versuchtem Passvergehen“ verurteilt. Die Untersuchungshaft wird angerechnet. Renates Mutter bekommt 1 Jahr Gefängnis wegen „Verbindung zu einer verbrecherischen Organisation“ in Verbindung mit „versuchtem Passvergehen“.

Anonyme Mitteilung zur Verurteilung von Dr. Renate Großmann u. a. | Rostock 1963
Privatarchiv Dr. Renate Werwigk-Schneider In einem Brief unbekannter Herkunft werden Brodhäckers über den Prozessausgang informiert. Die Schrift ist verstellt, um die Identität des Absenders zu verschleiern. Während Renate Werwigk-Schneider berichtet, sowohl ihre Mutter als auch ihr Vater hätten über eine Flucht nachgedacht, spiegelt das Strafmaß etwas anderes. Als Anstifter werden Vater und Tochter abgeurteilt. Möglich ist, dass sich das Strafmaß an damaligen Geschlechterbildern orientiert, nach denen Männer eher bestimmen.

Brief von Hilde Großmann an Lore Brodhäcker | Teupitz 1963
Privatarchiv Dr. Renate Werwigk-Schneider Hilde Großmann schreibt kurz vor ihrem Haftantritt an Lore Brodhäcker und erklärt das weitere Vorgehen. Mit „B” oder „Dr. B.” ist vermutlich der Ost-Berliner Anwalt Ernst Benda gemeint. Er arbeitet für Friedrich Karl Kaul als Verteidiger der Großmanns. Frieda T. ist eine enge Freundin der Familie in Teupitz. Sie arbeitet als Gemeindeschwester.

Bemühung um Freilassung

Brodhäckers bemühen sich schon während der Untersuchungshaft um die Freilassung von Renate und Gottlieb Großmann. Sie sind gut vernetzt und wenden sich unter anderem an die evangelische Kirche, den Verfassungsschutz und an den Rechtsanwalt der Familie Großmann in Ost-Berlin, Friedrich Karl Kaul. Es ist jedoch schwierig, das Verfahren ohne Kenntnis des Justizsystems mit seinen festgelegten Abläufen und Zuständigkeiten zu beeinflussen.

Brief von Karl Brodhäcker an das Bundesamt für Verfassungsschutz | Gießen 1963
Privatarchiv Dr. Renate Werwigk-Schneider Karl Brodhäcker informiert den westdeutschen Verfassungsschutz in einem Brief über seinen Kontakt zu Friedrich Karl Kaul. Er erklärt, warum er gegenüber dem ostdeutschen Staranwalt den Fluchtversuch der Großmanns als rein persönlich begründet darstellt. Diese Argumentation diene allein dazu, den Einsatz Kauls zugunsten seiner Freunde zu beeinflussen.

Brief von Prof. Dr. Friedrich Karl Kaul an Karl Brodhäcker | Ost-Berlin 1963
Privatarchiv Dr. Renate Werwigk-Schneider Der Rechtsanwalt von Familie Großmann, Friedrich Karl Kaul, antwortet Karl Brodhäcker nach knapp zwei Wochen auf seinen Brief vom 1. November 1963. In seinem Schreiben versichert er, alle möglichen Rechtsmittel auszuschöpfen, und tadelt Brodhäckers Vorgehen als politisch naiv.

Brief des Sekretariats von Dr. Martin Niemöller an Karl Brodhäcker | Wiesbaden 1964
Privatarchiv Dr. Renate Werwigk-Schneider Brodhäckers versuchen, mit ihren Einflussmöglichkeiten auch Prominente zur Unterstützung ihrer FreundInnen zu aktivieren. Der evangelische Theologe Martin Niemöller, in der NS-Zeit im Widerstand aktiv und im KZ inhaftiert, schaltet sich im Fall von Familie Großmann ein. Der Bitte, ein Gnadengesuch zu stellen, möchte er nicht nachkommen. Sein Sekretariat beschreibt aber weitere Möglichkeiten, um den Großmanns zu helfen.

Brief des Generalstaatsanwaltes der DDR an Karl Brodhäcker | Ost-Berlin 1965
Privatarchiv Dr. Renate Werwigk-Schneider Anfang 1965 teilt die Staatsanwältin beim Generalstaatsanwalt der DDR Schüßler Karl Brodhäcker mit, dass seine FreundInnen vorzeitig aus der Haft entlassen werden. Den genauen Zeitpunkt bestimmt ein Gericht. Gottlieb Großmann kommt ungefähr eineinhalb Jahre, Renate etwa ein halbes Jahr früher aus dem Gefängnis frei.

Entlassung und Neuanfang

Hilde Großmann wird nach einem Jahr Haft im Frauengefängnis in der Barnimstraße (Ost-Berlin) entlassen. Gottlieb und Renate, die zu höheren Zuchthausstrafen verurteilt worden sind, kommen Anfang 1965 vorzeitig frei. Renate hat ihre Haftstrafe in Frankfurt/Oder, ihr Vater in Halle verbüßt. Beide haben in der Haft medizinische Tätigkeiten übernommen. Nach der Freilassung fangen sie wieder an, regulär als Ärzte zu arbeiten. Renate arbeitet erst in einem Krankenhaus und später in einer Kinderklinik.

Brief von Hilde Großmann an Lore Brodhäcker | Teupitz 1965
Privatarchiv Dr. Renate Werwigk-Schneider Renate und Gottlieb Großmann sind nach ihrer Entlassung aus der Haft seelisch und körperlich geschwächt. Hilde kümmert sich in ihrem gemeinsamen Haus in Teupitz um die beiden. Sie berichtet Lore Brodhäcker von Renates und Gottliebs Zustand und ihre Sorgen darüber.

Brief von Dr. Renate Großmann an Lore Brodhäcker | Zossen 1965
Privatarchiv Dr. Renate Werwigk-Schneider In den ersten Monaten nach ihrer Freilassung arbeitet Renate Großmann in einem Krankenhaus. Ihr Vater kann eine staatliche Arztpraxis übernehmen. Obwohl beide allmählich wieder im Alltag ankommen, kämpfen sie noch mit den Auswirkungen der Haft. Renate bedankt sich in ihrem Brief bei Lore Brodhäcker für die Unterstützung, die die Familie weiterhin erhält. Mit viel Ironie berichtet sie von ihrer Arbeit.

Dr. Renate Großmann (links) in der Kinderklinik in Rangsdorf | Rangsdorf um 1965
FotografIn unbekannt | Privatarchiv Dr. Renate Werwigk-Schneider Renate Großmann arbeitet seit dem Sommer 1965 in der Kinderklinik in Rangsdorf. Sie macht dort eine Facharztweiterbildung zur Kinderärztin. Von dieser Ausbildungssituation sind kaum Fotos überliefert.

Der zweite Fluchtversuch

Dem ersten Scheitern und ihrer Haftstrafe zum Trotz möchte Renate Großmann weiterhin die DDR verlassen. Sie plant eine zweite Flucht. Dieses Mal möchte sie mit Hilfe ihres Verlobten Dieter Schneider über Bulgarien fliehen. Er lebt in der Bundesrepublik. Auch diese Flucht scheitert und beide werden festgenommen. Dieter kommt als Westdeutscher bald wieder frei. Renate wird von Bulgarien noch im Juni 1967 an die DDR ausgeliefert und kommt erneut in MfS-Untersuchungshaft in Hohenschönhausen.

Brief von Hilde Großmann an Lore Brodhäcker | Teupitz 1967
Privatarchiv Dr. Renate Werwigk-Schneider Renate Großmann tarnt ihren Fluchtversuch über Bulgarien als Sommerurlaub. Ihre Eltern wissen von ihrer geplanten Flucht. Um nicht wegen Mitwisserschaft belangt zu werden, verschleiert Hilde Großmann dies. In ihrem Brief an Lore Brodhäcker schreibt sie von ihren Sorgen um Renates Verbleib und äußert die Befürchtung, dass Renate möglicherweise Fluchtpläne hegt.

Neue Revue: „Seit 9 Uhr sind die Deutschen frei“ | Hamburg 1967
Privatarchiv Dr. Renate Werwigk-Schneider | © Bauer Verlagsgruppe Renate Großmann wird verhaftet, als sie mit einem gefälschten Pass von Bulgarien in die Türkei einreisen will. Mehrere westdeutsche Zeitungen berichten über ihren und andere zeitgleiche Fluchtversuche. Die Illustrierte „Neue Revue“ veröffentlicht dazu eine mehrseitige Reportage. Die Zeitangaben zu ihrem vorherigen Fluchtversuch sind allerdings falsch recherchiert worden. Der Vernehmer erklärt Renates Eltern, dass die große Aufmerksamkeit durch die Presse im weiteren Verfahren schaden kann.

Untersuchungshaft und Verurteilung

Zwischen Juni und Dezember 1967 ist Renate Großmann in Berlin-Hohenschönhausen inhaftiert. Am 12. Dezember 1967 findet in Potsdam der Prozess gegen sie statt. Renate Großmann wird zu 3 Jahren und 6 Monaten Zuchthaus wegen „Verbindung zu verbrecherischen Organisationen in Tateinheit mit versuchtem illegalen Verlassen der DDR“ verurteilt. Nach der Verurteilung bleibt sie zunächst in Hohenschönhausen. Ab März 1968 ist sie dann im Frauengefängnis Hoheneck in Stollberg inhaftiert.

Brief von Dr. Gottlieb Großmann an Lore Brodhäcker | Teupitz 1967
Privatarchiv Dr. Renate Werwigk-Schneider Einen Tag vor dem Prozess gegen seine Tochter schreibt Gottlieb Großmann an Lore Brodhäcker. Der Brief spiegelt die Ängste der Eltern um ihre Tochter und ihre Versuche, damit umzugehen.

Brief von Hilde Großmann an Lore Brodhäcker | Teupitz 1968
Privatarchiv Dr. Renate Werwigk-Schneider Die Haft in Hoheneck ist hart für Renate Großmann. Ihre Mutter bekommt dies bei einem Haftbesuch mit. Sie berichtet ihrer Freundin Lore Brodhäcker davon. Wie schon in früheren Zeiten sind Brodhäckers wichtige Ankerpunkte für ihre FreundInnen. Auch andere Kontakte helfen Großmanns: Im Brief erwähnt Hilde ein Treffen mit ihrer schwedischen Schwiegertochter Eva, die sie in Teupitz besucht hat.

Wege zum Freikauf

Auch nach der zweiten gescheiterten Flucht bemühen sich Brodhäckers um eine Freilassung von Renate Großmann. Seit 1964 kauft die Bundesrepublik politische Gefangene aus DDR-Haft frei. Brodhäckers nutzen erneut ihre Netzwerke und treten selbstbewusst an staatliche und kirchliche Stellen sowie Anwälte heran. Die Bemühungen für einen Freikauf sind erfolgreich: Im Sommer 1968 wird Renate in die Bundesrepublik entlassen. Brodhäckers kümmern sich zunächst um sie, da sie von der Haft geschwächt ist.

Brief von Lore Brodhäcker an Jürgen Stange (Abschrift) | Gießen 1967
Privatarchiv Dr. Renate Werwigk-Schneider Lore Brodhäcker wendet sich an den Anwalt Jürgen Stange, um ihn auf den Fall der Großmanns aufmerksam zu machen. Er ist auf westlicher Seite für die Aushandlung von Freikäufen zuständig. Im Osten ist dies Rechtsanwalt Wolfgang Vogel. Beide verhandeln im Auftrag ihrer Regierungen. Die Bundesrepublik erkennt die DDR völkerrechtlich nicht an und kann deswegen keinen direkten Kontakt zur SED-Regierung aufnehmen. Lore nennt verschiedene Möglichkeiten, die sie für die Freilassung von Renate sieht.

Brief von Jürgen Stange an Lore Brodhäcker | West-Berlin 1967
Privatarchiv Dr. Renate Werwigk-Schneider Jürgen Stange beantwortet Lore Brodhäckers Anfrage knapp damit, dass er sich um Renate Großmanns Fall kümmert. Was darunter zu verstehen ist, erklärt er nicht. Die Freikäufe müssen sehr diskret durchgeführt werden, vieles wird nur mündlich besprochen. Beide Regierungen möchten sich nicht dem Vorwurf des Menschenhandels aussetzen und die Aktionen gefährden. Für die DDR sind die Freikäufe sehr lohnend. Unter Gefangenen in der DDR kursieren trotzdem Gerüchte darüber, die ihnen Hoffnung machen.

Vor der deutsch-deutschen Grenze in Herleshausen | Herleshausen 1968
Fotografin: Lore Brodhäcker | Privatarchiv Dr. Renate Werwigk-Schneider Freigekaufte Häftlinge aus der DDR werden bei Herleshausen (Hessen) über die deutsch-deutsche Grenze gebracht. Der Ablauf ist genau durchgeplant. Die Freigekauften kommen anschließend im Notaufnahmelager Gießen unter. Im Fall von Renate Großmann nehmen Brodhäckers sie in Empfang. Sie möchten den besonderen Moment festhalten: Das Foto entstand unmittelbar vor Renates Ankunft.

Garten der Brodhäckers | Gießen 1968
Fotograf: Karl Brodhäcker | Privatarchiv Dr. Renate Werwigk-Schneider Renate Großmann muss nach ihrem Freikauf nicht im Notaufnahmelager Gießen bleiben. Sie kann bei den Brodhäckers wohnen und sich dort von den Strapazen der Haft erholen. Dieses Foto entsteht unmittelbar nach ihrer Ankunft in Gießen. Lore Brodhäcker, ihre Tochter (beide im Hintergrund), ein mit den Brodhäckers befreundetes Ehepaar und Renate sitzen hier im Garten und grillen.

Nachwirkungen

Renate Großmann und ihr Verlobter Dieter Schneider heiraten 1968. Sie ziehen nach West-Berlin. Renate Schneider beginnt dort, in einer Kinderklinik zu arbeiten. Ihrem Vernehmer in Bulgarien schickt sie die Nachricht über ihre Heirat und damit über ihre Freilassung. Das hatte sie während der Verhöre angekündigt. Ihr Brief hat später ungeahnte Konsequenzen für die Familie.

Ausschnitt aus einem Videointerview mit Dr. Renate Werwigk-Schneider | Berlin 2012
Stiftung Berliner Mauer Dieses Video entstand für eine Sonderausstellung der Erinnerungsstätte Notaufnahmelager Marienfelde. Renate Werwigk-Schneider schildert darin eine Situation während ihrer Vernehmung in Bulgarien 1967 und deren Folgen. Der erwähnte schwedische Diplomat ist Carl-Gustav Svingel. Er ist ein Vertrauter des damaligen Bundesministers für gesamtdeutsche Fragen, Herbert Wehner (SPD). Wehner setzt sich entscheidend für die Freikaufaktionen ein.

Brief des Diakonischen Werkes der Evangelischen Kirche an Dekan Philippi | Stuttgart 1971
Privatarchiv Dr. Renate Werwigk-Schneider Nachdem beide Kinder im Westen sind, versuchen Hilde und Gottlieb Großmann, die DDR auf dem Weg der Familienzusammenführung zu verlassen. Renates Brief nach Bulgarien erschwert diese Bemühungen. Das Diakonische Werk, das bei der Abwicklung der Freikaufaktionen eine Schlüsselrolle spielt, erläutert in einem kircheninternen Schreiben die Schwierigkeiten. Letztendlich nutzen die Großmanns 1980 eine genehmigte Besuchsreise in die Bundesrepublik, um der DDR für immer den Rücken zu kehren.

Über das Material

Auszüge aus dem Manuskript „Sensationen – kein Haushalt wie jeder andere“ von Lore Brodhäcker | 1980er Jahre
Privatarchiv Dr. Renate Werwigk-Schneider

Lore Brodhäcker aus Gießen (Hessen) sammelte die Briefe, die die befreundete Familie Großmann ihr und ihrem Mann Karl aus Teupitz (Brandenburg) schickten. Teilweise fertigte sie auch Abschriften ihrer eigenen Briefe an. Der Briefwechsel zeugt von zwei gescheiterten Fluchtversuchen aus der DDR und den anschließenden Bemühungen um Freilassung. Über 300 Briefe, Postkarten, amtliche Schreiben und Paketlisten sind aus der Zeit von 1962 bis 1980 erhalten. Lore Brodhäcker plante mit den gesammelten Materialien ein Buchprojekt. Das Buch wurde nie veröffentlicht, Fragmente des Manuskriptes sind überliefert.

Nach dem Tod von Lore Brodhäcker übergab ihr Mann das Material an Renate Werwigk-Schneider, geborene Großmann. Sie hatte zweimal versucht, aus der DDR zu fliehen. Seit mehreren Jahren ist sie der Stiftung Berliner Mauer als Zeitzeugin verbunden. Sie hat uns die Dokumente überlassen, damit wir sie für die Nachwelt aufbereiten und für die historisch-politische Bildung nutzen können.

Wir haben uns entschieden, die Dokumente nicht als Buch zu veröffentlichen, sondern für eine Website aufzubereiten. Die ausgewählten Materialien sind komplett und nicht nur in Auszügen lesbar. LeserInnen können selbst entscheiden, wie sehr sie sich in die Geschichte vertiefen. Wir möchten ihnen ermöglichen, sich nicht nur mit den Ereignissen, sondern auch mit der Sprache der Dokumente auseinanderzusetzen. In der Präsentation ergänzen wir die Dokumente mit Fotos aus dem Privatarchiv von Renate Werwigk-Schneider. Außerdem zeigen wir Ausschnitte aus Interviews, die die Stiftung Berliner Mauer mit ihr geführt hat. Ergänzende Hintergrundinformationen vermittelte uns Renate Werwigk-Schneider in zahlreichen Gesprächen. So wird einiges klar, was sich aus den Dokumenten selbst nicht erklärt.

Wir können uns dem Thema Flucht, Haft und Freikauf deswegen aus unterschiedlichen Perspektiven und Zeitschichten nähern: privaten und offiziellen Blickwinkeln, Ost und West, Quellen aus der Zeit des Kalten Krieges und der persönlichen Rückschau einer Zeitzeugin. Diese Vielschichtigkeit ist selten, oftmals ist nur eine Quellenart überliefert. Erzählbarkeit von Geschichte ist immer auch abhängig von der Art und dem Umfang von Überlieferungen. Das vorliegende Material ist in seiner Vielfalt besonders geeignet, eigene Interpretationen vorzunehmen und regt dazu an, weiter zu lesen – zum Thema Freikauf oder Flucht aus der DDR.

Projektleitung:	Dr. Sarah Bornhorst
Konzeption und Bearbeitung:	Dr. Sarah Bornhorst, Isabel Posselt, Matthias Stange
Mitarbeit:	Julia Baumann
Texte:	Dr. Sarah Bornhorst, Isabel Posselt
Lektorat:	Kathrin Steinhausen
Videoschnitt:	Marco Rais Abin
Design und Programmierung:	Christian Coers, cbc\|design

Flucht-Aktionen
Dokumente zur Biografie von Renate Werwigk‑Schneider